Aktionen AntiRassismus Aufklärung Bürgerrechte Kontrollgesellschaft Menschenrechte Vernetzung WatchBlog
Autor
Menschenrechte. Bedingungslos. Für alle.
Campaigning against racism in der Festung_Europa®
«Die Geschichte wird einmal ein vernichtendes Urteil nicht nur über diejenigen fällen, die Unrecht getan haben, sondern auch über die, die dem Unrecht stillschweigend zusahen.»
Rudolf Breitscheid
Innerhalb von Europa werden Grenzen immer unsichtbarer. Die Bewegungsfreiheit wird immer noch größer. Im wachsenden Schengenraum gibt es keine Grenzkontrollen. Wir fliegen in andere Länder mit anderen Sprachen und müssen nicht den Reisepass vorzeigen. Die Bewegungsfreiheit für Waren ist nahezu uneingeschränkt, für Kapital sowieso. Und wer wollte auch freiwillig auf den transnationalen Warenverkehr verzichten, auf die Möglichkeit, überall per Bankomat Geld abheben zu können. Wer will schon zurück zu den alten Ländergrenzen und Grenzübergängen? Die Freiheiten von uns Vielen machen die Beschränkungen von ein paar wenigen zur Randnotiz. Wenn sich jemand nicht frei bewegen kann, hat das Gründe. Wir haben Niederlassungsfreiheit, aber wenn sich alle niederlassen, wo sie sich gerade niederlassen wollen, dann geht das nicht. Das würde uns den Raum wegnehmen. Das wäre eine Ausnutzung von Freiheiten, zu Lasten anderer. Das würde unsere Freiheit beschränken. Und das gilt auch für EU-Bürger_innen, dass sie sich nicht einfach überall niederlassen können. Investieren sie? Oder liegen sie anderen auf der Tasche, das ist ja wohl ein Kriterium. Der Lebensstandard muss angepasst sein.
Es braucht Übergangsfristen, es braucht Qualifikationen, es braucht Regeln und Pflichten. Und während wir eine gesamteuropäische Währung wagen, gemeinsame Rechte und Pflichten erarbeiten und voller Zuversicht in eine immer freiere europäische Landschaft blicken, verkaufen wir unser Gewissen an die Angst vor Menschen aus Afrika und Asien, an die Angst vor dem Islam, an die Angst vor verbrecherischen Banden und Kriminalität, die Angst vor den Anderen, die unsere Freiheiten einschränken könnten. Während wir den Frieden als höchstes Gut und die Menschenrechte als Errungenschaft unserer Zivilisation propagieren, werden in unser aller Namen Kriegsflüchtlinge ohne Bedenken abgeschoben, werden Bootsflüchtlinge dem Krepieren im Mittelmeer überlassen und Roma – seien sie europäische Bürger_innen oder nicht – bis hin zur Ghettoisierung in ihren Bewegungsfreiheiten eingeschränkt. Das alles geschieht relativ unbemerkt. Den vielen Warnungen vor Flüchtlings- und Migrant_innen-Strömen und der allgegenwärtigen Rhetorik von Asylmissbrauch steht im Verhältnis sehr wenig Berichterstattung über unsere europäische “Grenzschutzagentur” gegenüber, die – noch einmal: in unser aller Namen – Schiffsbrüchigen die Hilfe verweigert. Der Widerstand gegen diese europäische humanitäre Katastrophe wächst.
“Flüchtlingsbekämpfung” im Namen Europas
Das Hauptaugenmerk vieler Initiativen gegen die Asyl- und Flüchtlingspolitik in Europa richtet sich auf die Grenzschutzagentur «Frontex». Der Name ist abgeleitet von «FRONTières EXtérieures», Französisch für: Außengrenzen. Und seit 2004 ist diese “Agentur Frontex” – mit Hauptsitz in Warschau – damit beauftragt, die EU-Mitgliedstaaten bei der Sicherung der “Außengrenzen” sowie bei der Durchführung von Abschiebungen zu unterstützen. Dazu wird die EU-Agentur wiederum von den europäischen Regierungen unterstützt, bekommt Geld, Befugnisse und Material in solchen Ausmaßen, dass Kritiker_innen in Frontex den Aufbau einer Grenzarmee sehen, die bereits seit geraumer Zeit “exterritorial” operiert, das heißt außerhalb europäischer Hoheitsgebiete. Eines der ersten großen Einsatzgebiete von Frontex war das Umland von Ceuta und Melilla, den spanischen Enklaven am afrikanischen Kontinent, und der Atlantik zwischen Afrika und den Kanaren. Die Aufgabe ist, Flüchtlinge am Erreichen europäischen Festlands zu hindern, wo diese de jure einen Asylantrag stellen und nicht sofort wieder zurückgeschickt werden können. Die Informationslage ist spärlich, auch wenn immer wieder einmal von Boatpeople berichtet wird und Bilder überfüllter afrikanischer Fischerboote in den Massenmedien auftauchen. Hintergründe werden nicht beleuchtet, von einer EU-Grenzschutzagentur, die freilich kaum an Publicity interessiert ist, wird kaum etwas bekannt. Von offizieller Seite heißt es maximal, Frontex habe «natürlich in erster Linie die Aufgabe, Menschenleben zu retten».
Noch 2009 wird einem Team des öffentlich-rechtlichen Fernsehens von Report Mainz nur das zugegeben, was sich nicht mehr leugnen lässt. Die Desinformationspolitik ist Programm. Die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen und von Aktivist_innen beginnt daher damit, überhaupt erst gesicherte Informationen zusammenzutragen, auszutauschen und schrittweise Bewusstseinsarbeit zu betreiben. «No Border Camps» finden jährlich in verschiedenen Städten und Regionen Europas statt: «Menschen und Bewegungen, die gegen die Grenzen kämpfen, welche uns trennen» treffen sich, tauschen ihre Erkenntnisse aus und führen Aktionen an Ort und Stelle aus. Diese offenen Veranstaltungen der No Border Camps sind Bestandteil des internationalen NoBorderNetzwerkes, eines losen Kollektivs, das sich aus autonomen Gruppen, Organisationen und Individuen zusammensetzt.



DIE BORDERLINE DER FESTUNG_EUROPA®
➊ «Frontex: The Movie» ist ein knapp 9 Minuten langes, von Aktivist_innen zusammengestelltes Informationsvideo auf YouTube, in dem die Einsatz- und Funktionsweisen der Grenzschutzagentur Frontex erklärt werden und das im Rahmen des «No Border Camps» 2009 auf Lesbos entstanden ist.
➋ Es gibt verschiedene Wege, auf die humanitäre Katastrophe an den Rändern Europas aufmerksam zu machen. Das «Zentrum für Politische Schönheit» versucht mit künstlerischen Mitteln Aufmerksamkeit zu schaffen und entwickelt mit einem Ingenieur-Büro Rettungsinseln für Flüchtlinge, «Seerosen für Afrika».
➌ Elias Bierdel von Borderline Europe spricht im sehr informativen “supertaalk” «Was passiert an Europas Grenzen?» unter anderem über die «auffällige Zurückhaltung der Medien», wenn es darum geht darüber zu berichten, was an Europas Grenzen passiert.
In Frontex laufen die behördlichen Verfahrensweisen und Praktiken der Asyl- und Flüchtlingspolitik einzelner EU-Mitgliedstaaten zusammen und werden, operativ an den Schnittstellen von Grenzpolizei und Geheimdiensten angesiedelt, aufeinander abgestimmt und zunehmend zentralisiert. Frontex ist also eine Behörde, die nicht von Grund auf neu geschaffen wurde, sondern die aus der Abstimmung und Vernetzung nationaler Grenzschutzbehörden hervorgegangen ist. Gewisse Grenzschutzmaßnahmen werden auch ausgelagert: Assoziierungsabkommen werden mit jenen Ländern abgeschlossen, die “jenseits” ans Mittelmeer grenzen und Transitländer sind für Menschen, die aus dem Süden der Sahara Richtung Europa aufbrechen. In diesen Abkommen verpflichten sich Länder wie Libyen, Ägypten, Marokko, auf ihrer Seite äußerst rigorose Grenzschutzmaßnahmen zu setzen, um die Überfahrten zu verhindern.
Die Aktivitäten und Einsätze dieser Behörde zu beobachten und zu dokumentieren stellt demnach eine weitverzweigte, komplexe und schwierige Aufgabe dar. Es sind lange Zeit vor allem Netzwerke wie no-racism.net, labournet, das «noborder network» und Indymedia, die Informationen zu Frontex sammeln und publizieren, aber keine zentrale Dokumentations-Stelle im Web. Bereits seit 2007 gibt es auf antira.info das WatchBlog «frontexwatch. keepin’ an eye on the Kerberos of the EU border regime». Auch wenn einzelne Journalist_innen wie Corinna Milborn mit «Gestürmte Festung Europa» oder Fabrizio Gatti mit seiner verdeckten Reise als “Illegaler” einiges Aufsehen erreichen, so dauert es doch Jahre, bis Existenz, Hintergrund und die Operationen von Frontex vor den Kanarischen Inseln, vor Marokko, Mauretanien und Senegal, dann im Mittelmeer vor Malta und Lampedusa einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und in einem Zusammenhang mit den Bildern von Flüchtlingslagern und Boatpeople gesehen werden. Während der Operation «Hermes», die im Februar 2011 im Angesicht der Aufstände in Tunesien und Ägypten gestartet wird und die befürchteten “Flüchtlingsströme abhalten” soll, ertrinken im April 2011 mehrere Hundert Menschen im Mittelmeer unter strenger Frontex-Bewachung. Die Medien berichten, aber fast sieben Jahre nach der Blockade der «Cap Anamur» ist diese Nachricht weiterhin nicht mehr als eine Randnotiz.
Cap Anamur und die europäische Borderline-Politik
Im Juli 2004 geraten 37 Männer, die von der afrikanischen Küste aus das Mittelmeer überqueren wollen, um in Europa Asyl zu finden, in Seenot. Sie werden von der Cap Anamur aufgenommen und gerettet, dem Rettungsschiff der gleichnamigen Hilfsorganisation der Deutschen Notärzte e.V., das eigentlich mit einem Transport medizinischen Materials in Richtung Suez-Kanal und dann weiter in den Irak unterwegs ist. Der Kapitän und der damalige Vorsitzende der Hilfsorganisation, Elias Bierdel, melden die Schiffbrüchigen den Behörden und wollen sie in Sizilien an Land bringen. Bei der Einfahrt in den Hafen zieht Italien plötzlich die Einlaufgenehmigung mit der Begründung zurück, dass auf dem Schiff “Illegale” transportiert werden und verlangt von der Cap Anamur, die Hoheitsgewässer Italiens zu verlassen. Kriegsschiffe umkreisen die Cap Anamur. Als das Schiff nach elf Tagen militärischer Blockade einerseits und Hungerstreik der Flüchtlinge andererseits schließlich einfach den Hafen Porto Empedocle anläuft und anlegt, wird es umgehend beschlagnahmt. Die Asylwerber_innen werden trotz anderslautender Abmachungen und vor den Augen der UNHCR in ein Auffanglager gebracht, der Kapitän, der erste Offizier und Elias Bierdel wegen «Beihilfe zur illegalen Einwanderung» festgenommen. Die Asylanträge werden im Schnellverfahren negativ beschieden und fast alle Männer aus Italien und Europa abgeschoben. Die Staatsanwaltschaft fordert vier Jahre Haft und eine Strafe von jeweils 400.000 Euro für den Kapitän der Cap Anamur und den Vorsitzenden der Hilfsorganisation, die sich nun von ihm trennt. Mohammed Yussif, einer der 37 Geretteten, versucht es 2006 wieder und stirbt so wie zwanzig weitere vor Lampedusa, nachdem ihr Boot kentert. Das Gerichtsverfahren gegen Elias Bierdel und die Mitangeklagten wegen Schlepperei endet nach fünf Jahren schließlich mit Freisprüchen.
Die Geschichte der Cap Anamur ist paradigmatisch für die europäische Borderline-Politik. Ein geeintes Europa, das vordergründig keine Grenzen kennt, nur “Außengrenzen”. Auf der einen Seite die «Flüchtlingsbekämpfung» (Angela Merkel, 2009) à la Frontex: Menschen werden mit allen Mitteln und auch “jenseits” der in Europa geltenden Rechtsbestände von den “Außengrenzen” ferngehalten. Auf der anderen Seite die Kriminalisierung sowohl jener Flüchtlinge, die es als “Illegale” nach Europa schaffen, als auch immer wieder der Menschenrechtsarbeit von Aktivist_innen und Nichtregierungsorganisationen (NGO’s). 2007 gründet Bierdel gemeinsam mit anderen den Verein «Borderline Europe», um «das Schweigen zu brechen» und diese Borderline-Politik der EU zu dokumentieren. Die Plattform borderline-europe.de dokumentiert die täglichen Dramen, Medienberichte, die Arbeit der Regierenden und den Kampf gegen Migrant_innen ebenso wie den Kampf Pro Asyl und gegen die im Namen Europas begangenen Menschenrechtsverletzungen. Die mittlerweile ein umfangreiches Archiv darstellende “WatchBlog”-Plattform ist per Feed abonnierbar und hat mit einer Facebook-Seite und einem Twitter-Account Web 2.0-Tools in die Informationsarbeit integriert.
Selbstermächtigung und politische Schönheit
Die Arbeit gegen Frontex, gegen die organisierte Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU, erfordert viel Autonomie seitens der Aktivist_innen, sowie ein großes Maß an Selbstorganisation: sie gestaltet sich entsprechend facettenreich auf unterschiedlichen Ebenen und mit verschiedenen Mitteln: laufende Dokumentation, Veranstaltungen zur Informationsarbeit, Bleiberecht-Demos, die europaweit stattfinden und jeweils konkrete, die Öffentlichkeit “vor Ort” bewegende Anlassfälle thematisieren, Vernetzung auf noborder-Camps, künstlerische Intervention. 2011 zieht zum Beispiel die «Karawane für Bewegungsfreiheit» zuerst aus ganz Europa und Afrika Menschen zusammen und dann von Bamako in Mali nach Dakar im Senegal zum 10. Weltsozialforum, um transnationale Verbindungen zwischen antirassistischen Gruppen zu knüpfen. Geleitet wird die Karawane von einem kleinen, transnational organisierten Netzwerk mit Aktivist_innen aus Mali, Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Gemeinsam mit anderen Netzwerken wie dem «Mouvement des Sans Voix» machen die Aktivist_innen auf die Wechselwirkungen zwischen den Gründen und Ursachen für Flucht und Migration, auf die von rassistischer Gesetzgebung, Ausgrenzung und Abschiebung geprägten Lebens- und Arbeitsbedingungen von Migrant_innen in den sogenannten Aufnahmeländern aufmerksam. Als die antirassistische Karawane auf die Autorally Budapest-Bamako trifft, gelingt es, den Rassismus dieser Veranstaltung in Bildern und Interviews so nachdrücklich zu dokumentieren, dass in Europa davon einige Notiz genommen wird.
Vernetzung ist transnational und auch auf lokaler Ebene von Bedeutung, etwa wenn es darum geht, sehr kurzfristig Demonstrationen und Interventionen gegen Abschiebungen zu organisieren. Entsprechende Mittel und Wege der Social Media “Kanal-Arbeit” werden im Manual-Block von Andreas Görg und PorrPorr beschrieben. “Lokal” bedeutet in dieser Hinsicht nicht beschränkt oder beschränkend, sondern eine präzise Abstimmung auf Einsatzgebiete, lokale Strategien und Interventionen mit Aktionen im öffentlichen Raum, aber auch im Web. Via Facebook wird sowohl lokale Vernetzung koordiniert, es wird informiert und zu Veranstaltungen aufgerufen als auch der virtuelle Raum für Online-Demos genutzt. «Das Bündnis für Menschenrechte und Zivilcourage» organisiert und mobilisiert zum Beispiel sehr erfolgreich sowohl in der sogenannten Real World Film-, Lesungs- und Diskussions-Veranstaltungen als auch im Facebook, immer mit konkreten und meist künstlerischen Aktionen, die sich gegen Diskriminierung und Extremismus wenden. In Berlin stellt das «Zentrum für Politische Schönheit» (ZPS) einen Thinktank dar, der politische Poesie mit Politik und Aktionskunst verschweißt, um den Kampf um die Menschenrechte neu zu denken. Grundanliegen sind eine humanitäre Kurskorrektur der Gegenwart und leuchtende Bekenntnisse zu politischer Humanität. Denn: «Politische Schönheit ist moralische Schönheit.» In den Arbeiten des ZPS werden die mangelnde politische und militärische Bereitschaft thematisiert, Zivilisten aktiv zu schützen und gegen genozidale Kriegsführung entschlossen vorzugehen. Der Berg aus Trauer gibt Rechenschaft darüber. Die Mittel sind grenzüberschreitend: Aktionen, Theaterstücke, Kinofilme, Podiumsdiskussionen, Ausstellungen, Installationen, Projekte wie der «Pillar of Shame» zur Erinnerung an das Massaker in Srebrenica. Es sind Mittel, welche die Vorstellungskraft stärken: ja, das gibt es, das kommt sogar regelmäßig vor, auch in “unserem” Europa, unter seiner Schirmherrschaft. Es geht um Anstand, politische Verletzlichkeit, Anteilnahme, Erschütterung. Die Aktionen richten sich gegen alle Formen von Handlungslethargie, von politischer Untätigkeit. Es geht darum, eine große digitale wie mediale Öffentlichkeit aufmerksam zu machen, zu erschüttern, in Bewegung zu bringen gegen Menschenrechtsverletzungen.
Nachrichtenagentur der Erschütterung
«Erschütterung» ist der erste Nachrichtendienst für humanitäre Breaking News abseits der “großen” Medienthemen wie Opel, “Abwrackprämie” oder Thilo Sarrazin. Der News-Feed kann über Facebook, Twitter oder Blog abonniert werden. Auf «Erschütterung» finden sich kurzgefasste Nachrichten mit Quellenangaben über die Kriege und Krisen in Afrika, die Festung Europa, über Frontex, über politische Ziele und Taten, die nicht ruhig schlafen lassen – wenn man von ihnen erst einmal gehört, gelesen hat. Insofern ist «Erschütterung» ein Puzzlestück zu einer verantwortungsvollen, nachvollziehbaren Berichterstattung. Die Kommentare der User_innen sind sehr offen und direkt. Viele schreiben empört: «Das habe ich ja gar nicht gewusst.» Mensch braucht Wissen, um eine Wahl zu haben, um die Entscheidung zu treffen, sich gegen die Borderline-Politik der EU zu vernetzen, sich dieser aktiv zu widersetzen. Dazu gehört, sich die Borderline-Politik der EU in ihrem Bestehen, in ihrem Ausmaß und ihren Konsequenzen vor Augen zu führen, sie zu beobachten und zu dokumentieren. Andere weisen auf themenbezogene, weiterführende Artikel oder Dokumentationen hin. Sie helfen als Community mit – eine Öffentlichkeit, die sich nicht abspeisen lässt mit massenmedialer Ignoranz, mit sachzwänglerischen Selbstverständlichkeiten, einer Menschen und Menschenrecht verletzenden Grenz-Politik. Vernetzung findet statt, über die Form der Mediendokumentation und über diese hinausgehend. Die Aufrufe anderer NGOs werden unterstützt, Links zu Online-Artikeln, zum Beispiel im «Glocalist» oder im «The European» werden gesetzt, Meldungen von Borderline-Europe werden verbreitet. Eine verantwortungsvolle, nachvollziehbare und gebündelte Berichterstattung ist auf Social Media-Kanälen möglich: Berichte über die Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen Europas werden WatchBlog-mäßig über News-Feeds gesammelt, über verschiedene Soziale Netzwerke und Web-2.0-Komponenten zugänglich und mit-teilbar gemacht, geshared, verbreitet. Ausführliche und sorgfältige Mediendokumentation stärkt die Vorstellungskraft, führt sie an ihre Grenzen, an denen sich herkömmliche und vielleicht bequemere Sichtweisen erschüttern.
Die «Seerosen für Afrika», entworfen vom «Zentrum für Politische Schönheit», sind als schwimmende Rettungsinseln konzipiert: 1000 von Deutschland fest im Mittelmeer verankerte Plattformen, ausgestattet mit Nahrung, Sonnenschutz, Radarreflektor sollen nicht nur Flüchtende vor dem Ertrinken retten, sie sollen auch ein Zeichen setzen. Ein Zeichen gegen das stille Sterben im Mittelmeer: Aus einer Utopie wird Verständnis und Verantwortung für ein gemeinsames Miteinander. Frontex wird die Plattformen regelmäßig kontrollieren und die Wartenden in die erhoffte Sicherheit bringen. Das Zentrum für Politische Schönheit will mit den «Seerosen für Afrika» die moralische Gleichgültigkeit durchbrechen. 1000 Positionslichter als internationales Bekenntnis zur abendländischen Humanität.
Jenseits von Planet Paprika
Reisende Menschen werden auch innerhalb der Europäischen Union bekämpft, die so viel auf ihre Reisefreiheit, Außengrenzen und ihre Verwaltungspolitik hält. Fahrende Lebensweisen, die von vorherrschenden Ordnungs- und Meldepflichten abweichen, werden nur in gewinnbringenden Formen toleriert. Roma werden ausgewiesen. Abgeschoben in Lager, in “Herkunftsländer” wie Rumänien oder Bulgarien, Deportationen innerhalb der EU. EU-Bürger_innen zweiter, dritter Klasse. Institutionalisierte Rassismen, die sich fortsetzen: Pogrome in Italien und Ungarn, regelmäßige Übergriffe und alltägliche Diskriminierungen. “Angewandter Antiziganismus” auf institutioneller und gesellschaftlicher Ebene: ungleiche Behandlung von Roma und Sinti auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Bereitstellung von sozialen Leistungen wie Gesundheitsvorsorge und Bildung. Als allgegenwärtiges Ressentiment ist Antiziganismus in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu finden – sei es in der Politik, Wissenschaft, Kunst oder in den Medien. So gebräuchliche Zuschreibungen wie «wild, frei, musikalisch» bilden dabei nur die Kehrseite von «dreckig, stehlend, verschlagen». Seit den späten 1970er-Jahren gibt es Roma-, Sinti- oder Jenischen-Organisationen, die auf antiziganistische Diskriminierung aufmerksam machen und Aufklärung über den NS-Völkermord leisten. Roma-Netzwerke kämpfen gegen Armut und soziale Ausgrenzung und um Anerkennung als bedrohte Minderheit. Die Internationale Romani Union ist die Dachorganisation der Roma-Organisationen weltweit. Sie hat Konsultativstatus im «United Nations Social and Economic Council» (ECOSOC). Es gibt unterdessen in fast allen Ländern der Welt Roma-Organisationen, wenige von ihnen nutzen jedoch Social Media.
Die Bewegungen von und für Roma, Sinti und Jenische verfügen im Gegensatz zu anderen kollektiven Akteur_innen wie Parteien oder Verbänden nicht über direkte Mittel, am politischen Entscheidungsprozess teilzunehmen. Sie sind gezwungen, auf nicht-institutionalisierte Einflusstechniken auszuweichen. Diese sozialen Bewegungen müssen versuchen, über die Öffentlichkeit bei einem möglichst großen Publikum Aufmerksamkeit und eine positive Resonanz zu erzielen. Wenn dies gelingt, kann der Druck auf politische Entscheidungsträger erhöht werden. Öffentlichkeit, und speziell die sozialer Medien, wird zum entscheidenden strategischen Ansatzpunkt. Eine gute Präsenz auf diesen Kanälen bietet die Chance, Interesse und Unterstützung für eine große, prekarisierte Gruppe zu mobilisieren, und sie kann zudem die Bildung einer kollektiven Identität erleichtern, die sich über rassistische Zuschreibungen hinwegsetzt. Die Präsenz von Roma, Sinti und verwandten oder solidarischen Gruppen im Web hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Blogs wie das «dROMa-Blog» des Vereins Roma-Service, das Antiziganismus WatchBlog von zwei jungen Gadsche (Romanes für Nicht-Roma) oder das Antidiskriminierungsblog sibiuaner.de leisten kontinuierliche und fundierte Aufklärungs- und Skandalisierungsarbeit. Valery Novoselsky mit seinem Roma Virtual Network fasst über dreißig E-Mail-Listen in zwanzig Sprachen zu einer Übersicht zusammen. Auf Facebook versorgt uns das «Roma Virtual Network» mit nützlichen Informationen. Und mit «Savvy Chavvy» gibt es eine eigene Social Network-Plattform für junge Roma. Die Webpräsenzen sind oft sehr traditionell, eher statisch und laden nicht allzu sehr zur (Inter-)Aktion ein. Wenn es jedoch um die Mobilisierung von Unterstützung geht, was eine Existenzgrundlage jeder sozialen Bewegung ist, ist in den letzten Jahren Vieles weitergegangen, die Artikulations- und Emanzipationsräume haben sich erweitert, vervielfältigt und sind partizipativer geworden. Webpräsenzen, wie die oben genannten Blogs und Newsletter, nehmen hier eine wichtige Gatekeeper-Funktion wahr. Es genügt aber nicht, wenn prekarisierte Gruppen nur die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erlangen. Sie müssen auch versuchen, in einem möglichst positiven Licht dargestellt zu werden.
Das dROMa-Blog
Das zweisprachige dROMa-Blog in Deutsch und Romanes vereint als Artikulations- und Emanzipationsraum eine Vielzahl der Funktionen und Aspekte sozialer Netzwerke: Autonomie und Selbstorganisation, Wissens- und Informationsmanagement der eigenen “community”. Und eben nicht über die zu ihr gezählten Köpfe hinweg oder gar in ihrem Namen. Übergriffe und Diskriminierungen werden WatchBlog-mäßig dokumentiert, ein thematisch und medientechnisch breit angelegter Überblick über relevante politische und kulturelle Veranstaltungen. Im dROMa-Blog spielen Formate klassischer Websites und Social Media-Kanäle zusammen: das Blog, ein Seitenprojekt der vom Verein Roma-Service herausgegebenen Zeitschrift «dROMa», wird zwar redaktionell betreut im Sinne eines «Journalismus der kleinen Form, der aufmerksam machen und Interesse wecken will». Der Twitter-Kanal @dROMaBlog wird nicht nur zum Aussenden der eigenen Blogbeiträge verwendet. Der Account ist mit rund 1.500 anderen Benutzerkonten verbunden und ist eine kommunikative Drehscheibe im Austausch mit vielen anderen Nutzer_innen. Via YouTube werden eigene Fernseh-Nachrichten, ebenfalls in Romanes und Deutsch, produziert und im Blog eingebettet. Die Informations- und Vernetzungsarbeit ist also selbstorganisiert. Berichte, Meldungen und Reportagen sind auf die Anliegen und Interessen der “community” fokussiert, ohne diese auf ein bestimmtes Selbstverständnis einzuschränken und vor allem ohne den Aufmerksamkeits- und Aktionsradius entlang eines festgelegten Selbstverständnisses zu begrenzen.
Die erste Voraussetzung für eine positive Wahrnehmung von sozialen Bewegungen ist, dass ihre Aktionen als sozialer Protest betrachtet werden. Eine Protestaktion muss eine Beschwerde über Ungerechtigkeit ausdrücken, die die Protestierenden nicht selber beseitigen können. Aktionen wie der transnationale Migrant_innen-Streiktag, an dem sich weltweit Migrant_innen organisieren und ihre Arbeit niederlegen, um auf die von Rassismus und Diskriminierung bestimmten Lebens- und Arbeitsbedingungen hinzuweisen, sind gerade dabei, die Grenzen regionaler oder nationaler Breitenwirkung zu überschreiten. Dafür sind wiederum Kampagnen und Protestformen notwendig, die zur transnationalen Solidarität aufrufen und dabei lokale Gruppen ebenso wie internationale Organisationen über die herkömmlichen Einzugsgebiete ihrer Aktivitäten hinaus vernetzen. Die Protestaktion dient dazu, die Aufmerksamkeit auf die Beschwerden zu richten und über eine Zielgruppe Schritte zur Verbesserung hervorzubringen. Die Protestierenden hängen dabei von einer Kombination aus Sympathie und Furcht ab, um die Zielgruppe in ihrem Sinne zu beeinflussen. Wenn eine Aktion als sozialer Protest definiert wird, bildet sie mehr eine Art von Kommunikation als eine Form direkter Aktion. Eine Protestaktion drückt immer sowohl Beschwerde wie auch Drohung aus. Eine optimale Kombination zwischen Beschwerde und Drohung ist notwendig, damit eine Protestaktion genügend Aufmerksamkeit erzielt, aber nicht eine zu starke Bedrohung darstellt. Wenn die Bedrohungskomponente überwiegt, besteht das Risiko, dass nicht die Motive und Gründe des Protests, sondern die Verwerflichkeit der Protestformen im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Allzu harmlose Proteste drohen hingegen unbeachtet zu bleiben. Diese optimale Kombination ist aber nicht leicht zu erreichen. Um sie zu erreichen, ist vor allem die richtige Wahl von Taktiken und “Framing”-Strategien entscheidend.
«Gegner zu bedrohen, den Staat unter Druck zu setzen und dennoch der Medienöffentlichkeit als sympathisch und ungefährlich zu erscheinen. Das ist ein schwieriger Balanceakt, der aber, wenn er gelingt, ein enormes politisches Druckmittel darstellen kann.» (McAdam 1994)



AUSSCHLUSS BASTA!
➊ Am 1. März organisieren sich weltweit Migrant_innen gegen soziale Ausschlüsse, Diskriminierung und Rassismus. Angefangen haben diese transnationalen Proteste im Jahr 2006 mit einem Streik von Migrant_innen in den USA und seither weiten sie sich aus.
➋ Das von fünf Frauen gestartete Roma Women Network will das Bild und die Identität von Roma Frauen selbst bestimmen, «For the very first time, modern communication technologies are giving us the chance to build a virtual space for our own self-representation and make connections, wherever we are. It is up to us to speak out and be the change!».
➌ Das Netzwerk der Roma Aktivist_innen betreibt Monitoring der Massenmedien, dokumentiert antiziganistische Berichterstattung und macht die Dokumentation im Netz präsent und sichtbar.
Zusammenfassung
Transnationale Menschenrechts- und Antirassismusarbeit hat denkbar schlechte Karten in dieser Festung_Europa®, die immer weiter militärisch hochgerüstet und überwacht wird; indem der “Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE)” im Europaparlament den Ausbau von Frontex billigt. Der Aufbau von Netzwerken ist alleine schon notwendig, um im Informationsaustausch über Grenzen hinweg überhaupt erst rekonstruieren und dokumentieren zu können, wo überall in unserem – europäischen – Namen Menschen- und Bürgerrechte missachtet werden. Die großen Tragödien spielen sich auf offener See, in versiegelten Transportern und Lagern unter Ausschluss der Öffentlichkeit ab. Dokumentation und Vernetzung sind ein Schritt, das Wegschauen und Schweigen beziehungsweise diskriminierende Rechtfertigen zu durchbrechen. Viele Projekte im Web sind dem Framing-Konzept verpflichtet, das in Anlehnung an Erving Goffman den Aspekt der sozialen Konstruktion von Problemen ins Zentrum rückt. Der Ansatz betont die Rolle von Deutungsstrategien, mit denen eine Frage überhaupt als Problem definiert wird. Unter “framing” werden bewusste Strategien verstanden, mit denen Akteure einer Bewegung versuchen, sich selbst und ihre Thematik darzustellen, um damit für bestimmte Aktivitäten zu motivieren und zu mobilisieren. Das Framing-Konzept betont die aktive Rolle der Teilnehmer_innen einer Bewegung und weist darauf hin, dass Mobilisierungen hergestellt werden müssen.
- Zusammenarbeit und Aufgabenteilung hilft bei der Recherche und Dokumentation, Karawanen und Treffen helfen, unsere Erkenntnis- und Wissensstände zusammenzuführen.
- Organisiert Info- und Diskussionsabende, ladet Aktivist_innen ein, analysiert gemeinsam im Dialog. Erarbeitet euch ein Verständnis der Lage derer, die am hilflosesten sind.
- Reiht euch in die Reihen derer ein, die von unserer Gesellschaft als “die Anderen” konstruiert werden. Wir müssen nicht nur nicht mitspielen, wir können die Konstruktion der “Fremden” auch demaskieren. Definieren wir das “wir” einfach um.
- Verwendet künstlerische, intervenierende, lebenslustig-widerständige Aktionsformen, um Aufmerksamkeit zu erregen, Zusammenhänge zu thematisieren, Bezugsrahmen zu verändern.
Afrika, Antirassismus, Antiziganismus, Asyl, Boatpeople, Cap Anamur, Erschütterung, Europa, Festung Europa, Flüchtlingspolitik, Framing-Ansatz, Frontex, Grenzen, Illegale, Karawane, Menschenrechte, NoBorders, Rassismus, Roma, Romablog, Zentrum für Politische Schönheit
Wir haben am 12. Oktober 2009 eine Informationsveranstaltung an der Akademie der bildenden Künste zum europäischen Grenzregime mitgefilmt. Elias Bierdel erzählt in seinem Vortrag die Geschichte der Cap Anamur, allein die Bilder sind interessant, der Vortrag ein Muss! Anschauen, weitergeben, einbetten:
Ich werde nie verstehen, warum der Zufall der Geburt so viel Macht über ein weiteres Leben haben darf/kann. Ich kann nicht akzeptieren, daß wir Europäer zwar stolz und glücklich sind über die friedliche Revolution 1989, daraus aber keine “europäische Nächstenliebe” geboren wurde. Spätestens zur Wiedervereinigung hätten auch andere Grenzen (sichtbare und unsichtbare) fallen müssen.
Erwähnenswert ist in dem Zusammenhang auch der Kontext, wo der Vortrag stattfand: Nämlich im Vorfeld zum Aktionstag “Abschiebung abschaffen” am 23.10.2009 am Flughafen Wien-Schwechat: http://stopdeportation.blogsport.de
Während die Grenzen für Welthandel und Kapital geöffnet wurden, machte man sie gleichzeitig für Menschen aus ärmeren Ländern dicht. Dabei verstärkt die Ausbeutung der Rohstoffe und der Arbeitskraft dieser Länder durch westliche Industrieländer und Konzerne dort noch das Elend und heizt bewaffnete Konflikte an. Weltweit gibt es mehr als 33 Millionen Menschen, die vor Gewalt, Krieg oder Unterdrückung aus ihren Heimatorten geflüchtet sind. Nur eine kleine Minderheit schafft es, dorthin zu gelangen, wo auch ein großer Teil der Reichtümer ihrer Heimatländer hingeflossen ist: in die reichen Industrieländer. Also zu uns. Viele von ihnen haben übers Fernsehen oder Internet mitbekommen, dass hier in Europa ein unvergleichlich hoher Wohlstand herrscht und sie, selbst wenn sie die billigste Drecksarbeit annehmen, oft an einem Tag mehr verdienen können als in ihrer Heimat in einem Monat. In Nigeria zum Beispiel, wo Shell und andere Erdölkonzerne mit der Ölförderung Milliarden verdienen, dafür korrupte Herrscher unterstützen und die Lebensmöglichkeiten von Millionen Menschen bereits zerstört haben, liegt das durchschnittliche Monatseinkommen heute bei 45 Euro pro Person. Benzin, Medikamente und andere Güter sind dabei aber genauso oder fast genauso teuer wie bei uns. Wie soll man von 45 Euro im Monat leben oder gar eine Familie ernähren? Jeder verantwortungsbewusste Mensch würde alles tun, um seine Situation zu ändern und woanders hinzugehen, dorthin, wo er oder sie im besten Fall sogar Geld heimschicken und damit der eigenen Familie helfen könnte. Mit jährlich über 300 Milliarden Dollar überweisen Migrant_innen weit mehr als dreimal so viel Geld an ihre Familien in der Heimat, wie weltweit an Entwicklungshilfe gezahlt wird. Dieses Geld ist zudem wesentlich sinnvoller angelegt, als es bei vielen Entwicklungshilfeprojekten der Fall ist.
Was passiert aber bei uns? Ein Nigerianer, der es geschafft hat, die teure und gefährliche Reise nach Europa anzutreten, steht an den Grenzen Europas vor verschlossenen Türen. Öl und Kapital dürfen rein, aber die Menschen nicht. Immer mehr Verzweifelte versuchen dennoch, die Mauern der „Festung Europa“ zu überwinden – und werden dann hier zu „Illegalen“ erklärt. Sie werden zu Verbrechern gemacht, ganz so, als sei der Wunsch nach einer besseren Zukunft kriminell. Wie zynisch diese Haltung ist, zeigt folgende offizielle Meldung österreichischer Grenzpolizisten: „Vier Illegalen gelang es, den Fluss zu durchschwimmen. Ein Somali ist ertrunken, einer erlitt Erfrierungen. Ihr Verhalten zeigt eine besondere Ignoranz der österreichischen Gesetze und eine Störung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit.“ Der Mehrheit unserer Politiker_innen und manchen Medien dient das ganze ausländerfeindliche Geschrei wahrscheinlich vor allem dazu, Unsicherheit in der Bevölkerung zu schüren und die eigene Macht zu sichern. Sie handeln dabei nach dem uralten Prinzip “teile und herrsche”: wenn eine Gruppe glaubt, dass die andere eine Bedrohung darstellt, klammert sie sich hilfesuchend an die Autoritäten.
Das gesellschaftliche Erblinden: Was die mediale Bildzirkulation hergibt ist weniger eine Stütze der Gesellschaft, als ihre Höhle: eine Momentaufnahme des “falschen Bewusstseins” Europas. Wie in der platonischen Höhle werden Bilder an die gesellschaftlichen Innenwände projiziert und von den Höhlenbewohnern tatsächlich geglaubt. Diese Bilder waren im Jahr 2010 – man mag es kaum glauben: ein Tiefbahnhof, ein Wettermoderator, ein Buch zur “Integration” und Digitalfotografien von Straßenzügen.
Um Europa herum herrschen Elend, Not und Schrecken. Aber die Zeitgenossen flüchteten in die Höhle der Ahnungslosigkeit. Das Bildvolumen aus den ostafrikanischen Krisenstaaten Kongo, Somalia oder Sudan dringt nicht durch. Weil die traditionellen Medien ihrer Bildungs- und Bewertungsfunktion nicht gerecht werden, wird es im 21. Jahrhundert mehr denn je auf Gegenöffentlichkeit ankommen.
“Roma”, dieser Oberbegriff für alle Menschen, welche Romanes sprechen oder von Lebensweise und Herkunft her zu den Stämmen der Roma gehören, bedeutet übersetzt: Menschen. Und ist der Oberbegriff für alle Angehörigen der verschiedenen Stämme.
In Deutschland, Frankreich und Italien leben hauptsächlich Sinti, die sich in Frankreich auch Manouches nennen. Die Sinti sind Nachfahren der im 15. Jahrhundert nach Zentraleuropa eingewanderten Gruppen. Als spätere Einwanderer aus dem Osten, vor allem nach der Sklavenbefreiung in Rumänien, aber auch aus der Slowakei, Ex-Jugoslawien oder Polen kamen weitere Gruppen, die sich auch als eigenständige Untergruppe Roma nennen. Obwohl sich alle Romanes sprechenden Stämme der Roma auf der ganzen Welt in ihrer gemeinsamen Muttersprache gut verständigen können, gibt es doch auch starke Unterschiede in den Dialekten des Romanes. Alle Roma-Stämme sprechen auch die Sprache oder die Sprachen der Länder, in denen sie leben; einige Gruppen, so etwa die spanischen Calé, sprechen auch unter sich nicht mehr Romanes, sondern die Landessprache Spanisch, allerdings mit einer eigenen Dialektfärbung und unter Übernahme von einzelnen Wörtern aus dem Romanes. Die Jenischen, eine Gruppe von sesshaften oder fahrenden Händlern, Schaustellern und Hausierern, welche vor allem in Süddeutschland, Österreich, der Schweiz und in Frankreich leben, haben eine eigene Sprache: Jenisch. Es enthält Elemente der mittelalterlichen „Vagantensprache“ Rotwelsch, der jüdisch/deutschen Mischsprache Jiddisch, des Romanes sowie viele eigenständige Wortbildungen.
In verschiedenen Sprachen präsent sind aber auch noch Bezeichnungen, die den Roma von außen her zugelegt wurden. So die Begriffe “Zigeuner” (Deutsch), “Tsigane” (Französisch), “Zingaro” (Italienisch), “Zigan” (Ungarisch, Polnisch und andere Sprachen Osteuropas). Vor allem in Deutschland und Österreich, wo die Roma unter der Bezeichnung “Zigeuner” von den Nationalsozialisten verfolgt und zu Hunderttausenden ermordet wurden, wünschen viele Sinti und Roma nicht mehr unter dieser Bezeichnung angesprochen zu werden. “Zigeuner” ist für sie ein mit Verfolgung und Gewalt verbundenes Schimpfwort. Hinzu kommt, dass es deutsche Wissenschaftler gab, welche das Wort “Zigeuner” aus der eindeutig abwertenden Bezeichnung “ziehender Gauner” herleiten wollten, was falsch ist. Eine andere Gruppe von Bezeichnungen für die Roma sind “gypsy” (Englisch), “gitano” (Spanisch, ausgesprochen: Chitáno) oder “gitane” (Französisch). Diese Wörter sind abgeleitet aus “egyptian” (Englisch) oder “egipciano” (Spanisch) für “ägyptisch”. Auch sie beruhen, genau wie die anderen Fremdbezeichnungen für die Angehörigen der Roma-Stämme, ebenfalls auf Missverständnissen und Unklarheiten.
abschaffung und weigerung.
ich schaffe ab.
wir sollten es abschaffen. das wort. flüchtling. es sollte überflüssig werden. die kathegorisierung. flüchtling. lange genug waren jene menschen, die vor uns stehen flüchtling. jetzt, da sie bei uns sind, an unseren aussengrenzen, in unserem land, in unserer stadt, in unserem dorf, soll das flüchtling sein ein ende finden. flüchtling – bezeichnet vergangenes. wir müssen uns auch bewusst machen, dass die gründe, die diese menschen zu uns kommen haben lassen, immer auch mit uns zu tun haben, ja oft sehr nachvollziehbar mit jenem system zu tun haben, von dem wir profitieren und viele – sehr viele andere – verlieren. es wäre auch nicht richtig, weil sehr naiv, so zu tun, als hätten diese neuen mitmenschen ohnehin die gleichen chancen, wie alle anderen auch, als wäre alles an schwierigkeiten schon vorbei und überwunden, wenn wir ihnen nur einen neuen namen geben. flüchtling – erzählt uns über die vielen schrecklichen dinge, die menschen erleben und überleben mussten, berichtet über die gründe, die schlimm genug gewesen sein müssen, alles hinter sich zu lassen und aufzubrechen. aus der verzweiflung in richtung hoffnung. flüchtling – dieses wort wird hier bei uns viel zu oft von jenen in den mund genommen, die in menschen eine gefahr und eine belastung sehen. es ist ganz einfach, einem flüchtling alles mögliche zu unterstellen. flüchtling – ist schnell eine identität für jene, die keine wirkliche identität haben dürfen.
also schaffen wir sie ab.
ich schlage vor.
führen wir ein neues wort ein. eine identität. willkommene. es soll sich verbreiten. unsere gedanken weiten. willkommene. sagen wir diesen menschen, die vor uns stehen: willkommen. wir müssen die bilder in unseren köpfen zu verändern, um die wirklichkeit zu ändern.
ich weigere mich.
nein zum prinzip selektion. es muss aufhören. lange genug wurde erörtert, wer denn die richtigen und die falschen seien. ich will nicht mehr über ein mehr oder weniger, ein wenn-dann, ein in-manchen-fällen oder sonstige sonderfälle reden. wenn wir das bleiberecht für die einen mit dem verweis auf andere, die wohl viel eher weg sollten, erkaufen und erfeilschen, verraten wir das unteilbare recht aller. es muss wirklich egal sein, ob das schicksal von menschen den medien bekannt ist oder nicht, ob journalistInnen über sie schreiben oder nicht, ob politikerInnen sie persönlich kennen oder nicht, ob sie sympathisch oder zurückgezogen, telegen oder schüchtern, laut oder leise, gesprächig, lächelnd, trauernd oder depressiv, kraftstrotzend oder krank, schwach oder sportlich sind, ob sie jung sind oder älter, ob sie christInnen, muslimInnen oder sonst religiös sind oder sie sich keiner religion zugehörig fühlen, ob sie herausragende fähigkeiten haben oder bisher keine bildungchance hatten, es muss unerheblich sein, welche visionen diese menschen antreiben, welche träume sie haben, ob sie hetero-, homo- oder bisexuell, ob sie frau, mann oder transgender sind, ob sie familie und kinder haben oder ganz allein da sind.
alle sind willkommen. alle haben rechte. kein mensch ist illegal.
bernhardjenny